Essay
Gedanken zur Arzneimittelfindung
Sapere aude
aus den Episteln des Horaz
Die Menge an Informationen für die Klassische Homöopathie ist mittlerweile nahezu unüberschaubar geworden. So viele Neuerscheinungen allein in den letzten Jahren, so viele neue theoretische Ansätze, Hunderte neuer Mittel – nahezu nicht mehr zu Bewältigendes an Qualität und Quantität.
“Nebenbei” noch Praxis, Familie, Alltag – und dabei hat der Tag nach wie vor nur 24 Stunden.
Dieser Konflikt führte zu diesem Versuch, eine Lösung für einen gesunden Umgang mit dem allen zu finden – und zu einer Fragestellung, die weit über den Praxisalltag eines Homöopathen hinausgeht (auch wenn sie dort ihren Ausgang genommen hat):
Wie gehe ich mit Information um, wenn ich weiß, dass jegliche getroffene (subjektive) Auswahl zwangsläufig unvollständig ist? Sollte mir nicht gerade das Wissen Sicherheit geben? Woher weiß ich, dass gerade die von mir willkürlich gewählte spezifische Information wichtig, nötig, das heißt vor allem: heilsam, für den kommenden Kranken sein wird? Oder macht es am Ende doch nur die Masse des Gelesenen aus, sieht man von der bisher gemachten Erfahrung einmal ab. Quälende Fragen.
Immer mehr, immer besser – eher Neugier-, Kaufsucht- und Konsum-fördernd, eben keine Sicherheit, keinen Halt gebend. Und außerdem einseitig, nur die linke Gehirnhemisphäre ansprechend, also eben nicht: ganzheitlich!
Obendrein erkenne ich mich im Faust´schen Dilemma wieder: Solange ich der drängenden Hilflosigkeit und Ohnmacht dieser Fragestellung ausgeliefert fühle, weiß ich mich gleichzeitig von echtem Erkennen und Erleben der Wahrheit getrennt, denn: Es wird nie genug sein, was ich weiß!
Fordert die Klassische Homöopathie etwa zu viel von Ihrem Praktizierenden?
Hahnemanns Klassische Homöopathie – Von der Heil-Kunde zur Heil-Kunst
Samuel Hahnemann, der die Klassische Homöopathie ins Leben gerufen hat, hat aus seinem Organon der rationellen Heilkunde ab der zweiten Auflage bekanntlich ein Organon der Heilkunst gemacht – was mag ihn wohl dazu bewogen haben?
Und: Er eröffnet sein Organon mit seinem bekannten Aude sapere. Sapere aude gilt zu seiner Zeit als die Parole der Aufklärung. Kant hat sie erst kurz zuvor wieder zum Leben erweckt. Im Allgemeinen wird sie mit “Wage, Deinen Verstand zu gebrauchen!” übersetzt.
Das Motto muss bei dem Grenzgänger Hahnemann eine wesentlich tiefere Bedeutung haben als das bloße verstandesmäßige “Wage es, weise zu sein”. (Vielleicht deshalb auch seine Umkehrung? “Wider den Stachel zu löcken” war ja eine seiner Spezialitäten.)
Wodurch bekommt diese Aufforderung bei ihm diese Sicherheit und Unerschütterlichkeit?
Berücksichtigen wir, dass die Aufklärung nicht nur die Epoche des Rationalismus war, sondern auch die Zeit der Universalgenies (derjenigen, bei denen beide Gehirnhälften synchronisiert sind).
Hahnemann war eines von ihnen.
Machen wir es jetzt wie er, schauen wir tiefer.
Kants Übersetzung (“Weise-Sein”) ist bereits Übertragung des Wortes, seine sekundäre Bedeutung. Ursprünglich bedeutet lat. sapere “(be-)merken”, “schmecken”, “riechen”.
Klassische Homöopathie – Die Intuition als Quelle
Es geht um die besondere Wachheit, etwas unvoreingenommen, vorurteilsfrei (ohne eigene MEINung) auf sich wirken zu lassen. Damit ist auf´s Engste verknüpft der Mut, der Richtigkeit und Gültigkeit dieser Wahrnehmung zu vertrauen und dazu zu stehen. Das ist das Credo jeglichen Pioniers, der “seiner Nase folgt”, sei er Entdecker oder Erfinder.
Damit befinde ich mich plötzlich nicht mehr im bloßen Bereich des rein verstandesmäßig Erfassbaren, sondern in der Sphäre unmittelbarer, direkter Wahrnehmung, der Intuition. Es geht um Schau, der Schau von Primärem, dessen Beschreibung zum Zweck der Vermittlung notgedrungen verbal, d.h. indirekt, subjektiv ausgedrückt werden muss. Der Mathematiker Gauß soll einmal über die Lösung eines mathematischen Problems gesagt haben: “Ich habe schon das Resultat, ich weiß nur noch nicht, wie ich dahin komme”. Wie soll das gehen – ohne Riecher oder Gespür?
Um ein derartiges Statement zu machen, muss man entweder ein Narr sein – oder sehr, sehr beherzt!
Die Wahrnehmung
Also nicht nur: Wage, Deinen Verstand zu gebrauchen um (Bruchstückhaftes) zu erfahren/zu wissen, sondern vielmehr: Wage die (ganze) Schau, wage die (volle) Erkenntnis. Freier interpretiert also: Habe den Mut, bewusst innezuhalten (nimm Deine persönlichen Ansichten und Meinungen zurück) und nimm wahr, was tatsächlich ist.
Offensichtlich gibt es neben dem Weg der intellektuellen, quantitativen Anhäufung von Wissen bzw. Erfahrung (was nun wirklich kein Wagnis ist und zu dem nun wirklich kein Mut gehört!) eine Ergänzung. Diese scheint darauf abzuzielen, sich qualitativ zu schulen in der Fähigkeit zur Schau.
Wie gesagt, ergänzend, es geht nicht um Ersatz!
Es scheint tatsächlich ein Wagnis zu sein und sehr viel Mut zu erfordern. Verlangt wird nicht weniger als die eigene persönlichen Subjektivität – sich selbst! – hinter sich lassen zu können um zu “sehen, was ist”. In demselben Augenblick, in dem ich meine Persönlichkeit samt all ihrem Wissen und Angelernten hinter mir lasse, trete ich in ein Größeres, Umfassenderes – Ich-Freies! – ein.
Die großen Religionen kennen dieses Hinter-sich-Lassen des Persönlichen und jede formuliert es in ihren eigenen Worten – und überall ist die Übung bereits der Weg:
Dem christlichen ”Dein Wille geschehe” entspricht in etwa das Zen-buddhistische “mushotoku” (Handeln ohne persönliche Absicht oder persönliches Ziel). Dem entspräche das hinduistische ”Verzichte auf die Früchte deines Handelns” der Bhagavad-Gita. Patanjalis Yoga-Sutren formulieren es als “jenen inneren Zustand in dem die [subjektiven] Gedanken und [individuellen] seelischen Regungen zur Ruhe kommen”. Dem entspricht auch die jüdisch-alttestamentarische Aufforderung, jegliche (persönlichen) Bilder und Vorstellungen hinter sich zu lassen.
Das Ergebnis
Wie gesagt: Der Weg vom “ICH will” und “ICH mache” hin zum Machen- und Los-Lassen ist allen gemeinsam.
Der römische Götterbote Merkur gilt als Vermittler zwischen dem Unaussprechbaren und dem Formulierbaren. Ebenso wird der von Hahnemann geforderte “ächte” Heil-Künstler (und ganz sicher nicht nur der!) nur vermitteln können (und “dürfen”) zwischen der unaussprechbaren, eben nur erlebbaren über-persönlichen Schau und den Kranken, denen diese Zuversicht dann in Form unserer homöopathischen Potenzen weitergereicht wird. Diese Schau ist es, die dem Schauenden durch sich selbst Sicherheit, Unerschütterlichkeit und Zuversicht vermittelt. Nebenbei bemerkt: Das Behandlungsergebnis tritt ja gleichfalls nur außerhalb des persönlichen therapeutischen Einflussbereichs ein. Klassische Homöopathie, von dir sind wir ausgegangen und was für einen großen Bogen haben wir geschlagen!
Wie nun umgehen mit Misserfolgen? Sie entkräften oder widerlegen keinesfalls das Gesagte. Der Vermittler, sei er Therapeut, Ausübender der Klassischen Homöopathie, Künstler o.a. bleibt innerhalb seines Menschseins, in dem ihm einfach Grenzen gesetzt sind. Er erkennt – und praktiziert (im wahrsten Sinne des Wortes):
ICH BIN NICHT DER MACHER.
Es scheint offensichtlich zu reichen, sich in den Dienst zu stellen. Es gibt nur eine Rolle, nur eine Aufgabe: einen Auftrag auf die ihm bestmögliche Weise auszuführen – mehr steht dem Boten und Helfenden nicht zu, mehr wird ihm nicht zugestanden – vielleicht zugunsten der Bildung einer anderen Art von Mut…?
überarbeitet am 1.Februar 2021
vertiefende Gedanken hier
Hahnemanns Taschenapotheke
(Deutsches Apothekenmuseum, Heidelberg)
(Foto privat)